Über „Identitätsprobleme” als politischer Gefangener in der Haft

FaustTexte zum Knast – Teil 2

Selbstdefinitionen und Rollenübernahmen in der Haft fielen für eingesperrte politische Aktivistinnen in den 1970er bis 1990er Jahren meiner Erinnerung nach widerspruchsfreier aus als zu Zeiten nicht existierender Kollektivstrukturen politischer Gefangener hinter Gittern. Und folgerichtig sehe ich mich einem widersprüchlicher gewordenen Selbstbildnis als politischer Gefangener gegenüber. Ich will an dieser Stelle die (interessierte) Leserinnenschaft natürlich nicht mit meinen Irrungen und Wirrungen im Selbstfindungsprozess ermüden; ich denke aber, dass sich dieses Problem etwas genereller stellt. Für mich und für Kolleginnen und Genossinnen, die künftig einfahren werden.

Begriffswirrwarr und Titelvergabe

Es herrscht eine ziemliche Begriffsverwirrung vor. Diverse „Titel” sind zu vergeben: politischer Gefangener, revolutionärer Gefangener, proletarischer Gefangener, freier Gefangener, rebellischer Gefangener, sozialer Gefangener, Gefangener und die eine oder andere begriffliche Zusammenführung bspw. in Form des proletarisch-revolutionären Gefangenen oder des sozial-politischen Gefangenen.

Heißt das, dass jeder Gefangene aus diesem Allerlei den vermeintlich passenden „Titel” auswählen kann, um sich zu kennzeichnen? Es gibt kein Copyright, soviel ist wohl klar. Die Betitelungen stehen sozusagen zur freien Verfügung. Vielleicht ist es auch vergebliche Lebensmühe, sich an Begriffsdefinitionen allgemeinverbindlich zu versuchen.

Ein Hinterfragen des „Etiketts” politischer Gefangener fand in Ansätzen im Zuge der Gründung der anarchistisch orientierten Schwarzen Hilfe (SH) Anfang der 1970er Jahre statt. Nach dem Verständnis der SH ist die Existenz von Knasten und Zwangsanstalten der eklatanteste Ausdruck (kapitalistischer) Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse und demnach ein Politikum. In diesem Sinne sind alle Gefangenen faktisch politische.

Auch im Kontext der Entwicklungsbemühungen einer (revolutionären) Gefangenenbewegung in Gestalt von Gefangenenräten ab Ende des Jahres 1973 erfolgte eine Problematisierung des Verhältnisses zwischen (sozialen) kriminellen und politischen Gefangenen. Allerdings waren diese Diskussionsansätze innerhalb der explizit politischen Solidaritäts- und Antirepressionsorganisationen der sich ebenfalls herausbildenden Roten Hilfen oder der Komitees gegen Folter nicht mehrheitsfähig. In deren Debatten ging es weniger um eine Aufhebung des politischen Gefangenen als „Figur” im Knast, sondern um eine kämpferische Wechselwirkung zwischen Inhaftiertengruppen. Zudem setzte man auf die „offizielle Anerkennung” als politischer Gefangener, wenn nicht gar als Kriegsgefangener. Die Aktivistinnen, die sich in Organisationen der militanten oder bewaffneten Linken engagierten, agierten nach ihrem politischen Selbstverständnis als Revolutionärinnen gegen den Klassenstaat und seine imperialistischen Ambitionen. Wenn infolge von Strafverfahren und Verurteilungen in der Regel mehrjährige Haftstrafen verhängt wurden, so betrachteten das die Betroffenen und das solidarische Umfeld als Akt einer staatlich sanktionierten Geiselhaft.

Die Grundfrage ist, was denn einen Menschen in der Haft auszeichnet, um als „politischer Gefangener” durchzugehen? Dieses Prädikat fällt einem praktisch von allein zu, wenn man aufgrund der typischen Staatsschutzparagrafen § 129ff. verurteilt wurde. Gekoppelt ist dies, dass man (staatlicherseits) einem inkriminierten Verband zugeordnet wird, der die Fremdbezeichnung „kriminelle” oder „terroristische Vereinigung” erhält. Bei Leuten,  die  beispielsweise  bei  Strassenriots  im  Zuge der alljährlichen  Maifestspiele eingefahren  sind  und  aufgrund  des Landfriedensbruchparagrafen vor Gericht gezerrt werden, wird unsererseits bei einer Verurteilung zu einer Haftstrafe in der Regel von einer politischen Gefangenschaft ausgegangen. Ob sich derjenige oder diejenige selbst als politischer Gefangener bzw. politische Gefangene verortet, ist dabei offenbar zweitrangig.

Mobilisierungs faktor und Stichwortgeber

Politische Gefangene, insbesondere diejenigen, die sich offen zu ihren organisatorischen Hintergründen bekannten, stellten einen nicht zu verachtenden Mobilisierungsfaktor dar. Sie fungierten bisweilen als Stichwortgeber für Solidarisierungskampagnen draußen. Das geflügelte Wort von der „Befreit-die-Guerilla-Guerilla” veranschaulicht recht gut, dass in bestimmten Abschnitten in der Politik von Teilen der radikalen Linken die Gefangenen-Frage eine eminent bedeutende war.

Eine „Kasernierung” von politischen Gefangenen in speziellen Isolationstrakten, wie sie in den vergangenen Zeiten in der BRD typisch war, hat sicherlich mit dazu geführt, dass sich eine Identität als politischer Gefangener in sich geschlossener ausprägen konnte. Als politischer Gefangener fällt man innerhalb der Knastwelt aus dem Rahmen. Aus dieser „Auffälligkeit” ist allerdings kein Dünkel abzuleiten. Dieser implizite „Sonderstatus” kann stattdessen in der Hinsicht bedeutsam werden, dass man beispielsweise sein Kontaktnetz aktiviert, um Knastfragen insgesamt zu thematisieren und Beispiele von Anstaltswillkür zu denunzieren.

In den letzten anderthalb bis zwei Jahrzehnten ist ein Bedeutungsverfall politischer Gefangener feststellbar, der sich auch leicht objektivieren lässt.  Der Klientel politischer Gefangener ist in den BRD-Knasten allein zahlenmäßig irrelevant. Diese „Minderheitenposition” ist vor dem Hintergrund, dass die wenigen politischen Gefangenen nicht miteinander vernetzt und ohne kollektives Sprachrohr sind, umso verheerender. Hinzu kommt, dass es aktuell keine politischen Gefangenen in der BRD gibt, die als „Symbolfigur” funktionieren. In zurückliegenden Phasen der Knastkampfgeschichte konnte durch die eine oder andere personifizierte Freilassungskampagne eine breitere Öffentlichkeitsarbeit und Mobilisierungskraft über die Grenzen der radikalen Linken hinaus entfaltet werden.

Eine vermehrte „Ausstrahlungskraft” hinter Gittern lässt sich vermutlich erst dann entwickeln, wenn eine stärkere gegenseitige Bezugnahme zwischen inhaftierten und nicht inhaftierten politischen Aktivistinnen erfolgt. Des Weiteren kann die Kommission für den Aufbau der roten hilfe international (rhi) als organisatorisches Dach fungieren, unter dem sich politische Aktivistinnen in der Haft sammeln,  falls sich denn eine Unterstützung der rhi seitens politischer Gefangener expliziter zeigen sollte.

Knasthierarchie und Platzierungswettbewerb

Die Inhaftierten sind eine aus allen Himmelsrichtungen zusammengewürfelte Zwangsgemeinschaft, die zudem unter den Bedingungen des Knastregimes ein internes Arrangement finden muss. Das ist eine denkbar ungünstige Ausgangssituation, um Gemeinsamkeiten zu entdecken oder gar ein Zusammengehörigkeitsgefühl an den Tag zu legen. Es ist leicht nachvollziehbar, dass unter politischen Häftlingen das zentral Verbindende in der politisch-idealistischen Motivation des Handelns liegt. Diese Parallelität schafft über ideologische Differenzen hinweg ein starkes Bindemittel untereinander. Und nicht zuletzt spielt das Selbstbild mit rein. Für einige ist es schlicht nur eine „identitäre Krücke”, mit dem Ausweis als politischer Gefangener zu wedeln, für andere ist es eine bewusste Wahl, sich als politisches Subjekt innerhalb der Haftanstalt auch außerhalb über die Plakette „politischer Gefangener” zu definieren.

Hinter der Frage nach der Etikettierung von Gefangenen verbirgt sich der ungeklärte Konflikt hinsichtlich der Einteilung von „besseren” und „schlechteren” Gefangenen. Auf einer Skala von 1 bis 10 rangiert der (linksradikale) politische Gefangene weit oben, dahinter platziert sich der rebellische (Langzeit-)Gefangene und um einiges weiter tiefer der irgendwie politisch aufgeschlossene soziale Gefangene. Ganz weit abgeschlagen drängelt sich der zahlenmäßig überproportional große Rest an Knackis. (Von den sog. Patientenfällen, u.a. die „Deliktgruppe” der Täter sexualisierter Gewalt einmal komplett abgesehen.)

Mehrfach habe ich von Gefangenen, die sich in der Haft engagiert zeigen, aber nicht im klassischen Sinne als politische Gefangene etikettiert werden (wollen), vernommen, dass sie sich, wenn sie dies denn wollten, ebenfalls als explizit politische unter den Inhaftierten bezeichnen könnten. Nun könnte umgekehrt gefragt werden, weshalb sie dies nicht tun. Welche Hemmschwellen bestehen da? Könnte eine solche ausgedehntere Verwendung des Titels „politischer Gefangener” nicht auch einen (nicht bloß identitären) Schub in Bezug auf eine Gefangenenorganisierung bedeuten?

Ich habe die Vermutung, dass auch deswegen diese Selbstbezeichnung unterbleibt, weil (ungenannte) Skrupel vorliegen, diesen vermeintlich für Mitglieder bzw. Sympathisantinnen militanter oder bewaffneter Organisationen reservierten Titel in Beschlag zu nehmen. Es wird aber auch von (Alt-)Knackis angeführt, dass es für das eigene (politische) Selbstwertgefühl völlig unerheblich ist, sein Gefangenendasein durch den vorgeschalteten adjektivischen Zusatz „politisch” aufzuhübschen.

Die, die sich aus Passion und Profession als Berufskriminelle verstehen, sind gleichfalls nicht frei von einem (zur Schau gestellten) Elitedenken. Auch hier erfolgt eine Abgrenzung „nach unten” zu jenen, die aus einer schlichten ökonomischen Notlage heraus „kriminell” geworden sind. Allein aus den hier kurz und bündig vorgestellten Problemstellungen erscheint es zweifelhaft, ob es gelingen kann, die faktisch existierende Fragmentierung innerhalb der Knacki-Population aufzuheben, indem man von begrifflichen Unterscheidungen Abstand nimmt und ausschließlich den Einheitsbegriff „Gefangene” verwendet. Ein gelebter Unionsgedanke innerhalb der Knacki-Population lässt sich meiner Ansicht nach nicht über simple „Vertuschungsversuche” der bestehenden Uneinheitlichkeit herstellen, sondern nur schrittweise über die Formulierung (punktueller) gemeinsamer Interessen.

Oliver Rast – § 129-Gefangener aus dem mg-Verfahren